M. Meier: Psychochirurgie nach dem Zweiten Weltkrieg

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Titel
Spannungsherde. Psychochirurgie nach dem Zweiten Weltkrieg


Autor(en)
Meier, Marietta
Erschienen
Göttingen 2015: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
391 S.
Preis
€ 42,00
URL
von
Regina Wecker, Historisches Seminar, Universität Basel

In einer einprägsamen Studie stellt die Wissenschaftshistorikerin Marietta Meier Aufstieg und Niedergang der Lobotomie dar. Als Lobotomie oder Leukotomie wird ein technisch relativ einfacher operativer Eingriff ins Hirn bezeichnet, bei dem die Verbindung zwischen den zwei Hirnhälften, zwischen Thalamus und Frontallappen getrennt wird. Meier analysiert die politischen, wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Hintergründe für die breite Akzeptanz dieser folgenschweren Operation an Patienten und Patientinnen der psychiatrischen Kliniken nach dem Zweiten Weltkrieg.

In neun Kapiteln untersucht die Autorin im Wechsel zwischen Mikro- und Makroebene die Entwicklung in den psychiatrischen Kliniken der Schweiz, nicht ohne den Blick auch auf die internationale Diskussion zu werfen. Theoretisch-methodische Grundlagen bilden Michel Foucaults Konzept der «Problematisierungen», Jacques Revels «Jeux d’échelles» und Ludwik Flecks «Denkstile».

Titelgebend ist die Vorstellung der zeitgenössischen Psychiatrie, dass psychische Störungen durch «affektive Spannungen» ausgelöst werden, die im Gehirn lokalisiert werden können. In einer mechanistischen Vorstellung von Gehirnfunktionen sollte die Trennung der beiden Hirnhälften durch den chirurgischen Eingriff die «Spannungsherde» beseitigen können (S. 72 f.). Faktisch stellte man die PatientInnen nur ruhig, entlastete so die überfüllten Kliniken (S. 96), nahm aber die gravierenden Persönlichkeitsveränderungen in Kauf.

Meier verwendet für die Operationen den generalisierenden Begriff «Psychochirurgie», weil er ihr den Einbezug kleinerer Variationen der Operation erlaubt, die eine Verbesserung der traditionellen Lobotomie versprachen, aber auch um nach dem Ende der Lobotomie praktizierte Eingriffe einbeziehen zu können.

In der Schweiz wurden erstmals 1946 Leukotomien durchgeführt. Der Leiter der Zürcher Psychiatrischen Klinik Burghölzli, Manfred Bleuler, hatte sich in Skandinavien in die Techniken einführen lassen und wandte sie kurz darauf selbst vor allem an PatientInnen an, die schon vorher zahlreichen anderen somatischen Behandlungen unterzogen worden waren. Die Leukotomie galt für die PatientInnen als «letzte Chance» (S. 172). Ende 1948 wurden bereits an 19 Kliniken der Schweiz psychochirurgische Eingriffe ausgeführt (S. 107).

Auffallend ist, dass Frauen sehr viel häufiger lobotomiert wurden. Das zeigen zahlreiche internationale Studien (S. 205). In der Schweiz waren es durchschnittlich etwa doppelt so viele (S. 206). Das hänge – so Meier – hauptsächlich damit zusammen, dass ihr Verhalten im Klinikalltag als besonders störend empfunden wurde und dass sie in den Augen des Klinikpersonals häufiger Symptome zeigten, die eine Operation rechtfertigten: Sie waren aggressiv, unsauber und machten einen hohen Pflegeaufwand nötig. Vergleiche zeigen, dass das Verhalten der Frauen nicht anders als dasjenige der Männer war, aber bei Frauen als «kranker» empfunden wurde. Sie verletzten damit nicht nur die Ordnung, sondern auch geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen (S. 211). Am Beispiel der Patientinnen zeigt sich also deutlich, dass es nicht zuletzt eine Frage der Einschätzung der Ärzte und des Pflegepersonals war, wer wann lobotomiert wurde, und dass die Wahrung von Ruhe und Ordnung in der Institution höher bewertet wurde als das individuelle Schicksal der PatientInnen, auch dann noch, als man sich über die schwerwiegenden Folgen und die Kurzfristigkeit der «Verbesserung» längst im Klaren war.

Laut einer Schätzung wurden seit den 1940er Jahren in Skandinavien über 10'000 Operationen durchgeführt, in den USA etwa 40’000, in Grossbritannien etwa 17'000 (S. 86). Andere Länder folgten nach dem Zweiten Weltkrieg. «Wie viele Patienten insgesamt operiert wurden, lässt sich kaum abschätzen» (S. 95) so Meier. Aus den Jahresberichten der staatlichen Kliniken in der Schweiz geht hervor, dass zwischen 1946 und 1971 über 1200 Eingriffe stattfanden. Meier rechnet aber damit, dass die Anzahl «um einiges» höher war, da die Berichte lückenhaft waren (S. 109). Die Anzahl der Eingriffe lag bis 1951 zwischen ca. 120 und 190 pro Jahr, nahm aber seit 1953 deutlich ab. Neben der Einführung der Neuroleptika, war dafür die zunehmende Skepsis gegenüber den Erfolgsversprechungen der Operation wichtig. Misserfolge «wurden beim Namen genannt» (S. 270) und Ärzte sahen sich nun zunehmend weniger als Verteidiger der Klinikordnung, denn als Vertreter der Rechte der Patienten. Neben dieser auf gesellschaftlichen Veränderungen beruhenden Sichtweise wurde auch eine Wandlung der wissenschaftlichen Paradigmen wichtig. Die intensive Erforschung psychischer Prozesse seit den 1950er Jahren führte zu vermehrten psychotherapeutischen Behandlungen (S. 263). Allerdings ersetzte die Psychotherapie die Lobotomie nicht. Schlug die Behandlung bei «schwierigen» (S. 274) Patienten fehl, folgte nicht selten trotzdem eine Lobotomie.

Auch die Entwicklung von Psychopharmaka änderte das nicht. Sie wurden 1953 zuerst in der Universitätsklinik Basel (S. 279) eingeführt, ab 1954 wandte man sie in allen Schweizer Kliniken an, in Zürich neben den Fieber-, Schlaf- und Schockkuren und – wenn auch immer seltener – auch neben der Lobotomie. Die letzten PatientInnen wurden 1971 lobotomiert. (S. 276).

Bereits einleitend hält die Autorin fest, dass das Ende der Lobotomie die Ära der Psychochirurgie nicht abschloss (S. 11). Es kamen selektivere Techniken zur Anwendung. Meier vermutet, dass die Anzahl der Anwendungen weiter steigen dürfte, falls sich der Trend verstärken sollte, die Tiefenhirnstimulationen, die bisher bei Epilepsie und Parkinson angewendet wird, auch bei psychischen Störungen anzuwenden. Und das, obwohl – wie die Autorin abschliessend festhält – die Lobotomie als «dunkles Kapitel der Medizingeschichte» gilt, «von dem man sich entschieden distanzierte» (S. 316).

Die Studie ist geprägt von der Bemühung um eine nüchterne Darstellung der Entwicklung und der Vermeidung der Historikerin, sich die «Rolle einer Richterin» anzumassen. Eine Bemühung, die auch in Meiers späterer Forschung zu den Medikamentenversuchen in der Klinik Münsterlingen deutlich wird.6 Die Auseinandersetzung mit der sprachlichen Metaphorik ist ein wichtiger Teil der Analyse. Dass die zahlreichen zusätzlichen Informationen in die Anmerkungen verwiesen wurden, schafft einen sehr gut lesbaren Haupttext.

Die Publikation wurde inzwischen sowohl in der Tagespresse wie in wissenschaftlichen Zeitschriften intensiv rezensiert. Zwei Kritikpunkte, die in den ausnahmslos positiven Würdigungen zur Sprache kamen, möchte ich herausgreifen: Die Autorin habe der Zustimmung zur Operation durch die PatientInnen und der ethischen Frage, ob Psychiatrie-PatientInnen eine (rechtsgültige) Zustimmung geben können, zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.1 Ich würde hier ergänzen, das gilt auch für die Frage, wie die Zustimmung von PatientInnen bzw. ihrer Vormünder zustande kam. Die Enttäuschung darüber, dass Marietta Meier der jüngsten Entwicklung der Psychochirurgie (zu) wenig Raum gibt, ist verständlich.2 Ich teile sie allerdings nicht. Die klare und nüchterne Darstellung der schwerwiegenden Folgen der Operation für die Patienten und Patientinnen, die «Ungeheuerlichkeit» (Hafner) der historischen Therapieformen schärfen den Blick für neuere Entwicklungen, ohne ihn schon durch abschliessende Urteile einzuengen.

Anmerkungen
1 Eric J. Engstrom: M. Meier: Spannungsherde, auf www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb23634 (12. 11. 2020).
2 Urs Hafner, Schnitt ins Hirn, in: Neue Zürcher Zeitung, 10. August 2016, auf https://www.nzz. ch/feuilleton/buecher/eine-geschichte-der-psychochirurgie-schnitt-ins-hirn-ld.109980 (12. 11. 2020).

Zitierweise:
Wecker, Regina: Rezension zu: Meier, Marietta: Spannungsherde. Psychochirurgie nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (2), 2021, S. 392-394. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00088>.

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